Dieser Text ist ein Auszug aus dem im Dezember 2024 erschienen Beitrag Geburtshilfe in der Krise: Handlungsbedarf und Lösungsansätze von Mother Hood Vorständin Katharina Desery in der Hintergrundbroschüre „Für eine Geburtshilfe im Zeichen der Menschenrechte“ zum Pro Familia Projekt „Selbstbestimmung und Vielfalt in der Geburtshilfe“.
Die Frage, wie sich die Rahmenbedingungen hin zu einer frauzentrierten Geburtshilfe verändern lassen, ist nicht einfach zu beantworten. Zu vielschichtig sind aufgrund des föderalen Systems unseres Landes sowie der verschiedenen involvierten Berufsgruppen die Verantwortlichkeiten, gesetzlichen Regelungen und berufsständischen Interessen. Nicht zuletzt steht auch die häufig nicht unbedingt frauenfreundliche, ja teilweise sogar paternalistische Haltung von Beteiligten möglichen Veränderungen entgegen. So ist es nicht verwunderlich, dass im Rahmen unseres Engagements Vertreter:innen der Kliniken, der Berufsgruppen, der Landes- und Bundespolitik die Verantwortlichkeit regelmäßig an eine andere Instanz weiterreichen: Kliniken an die Länder, der Bund an die Länder, die Länder an den Bund. Alle zusammen nehmen sie Hebammen und Ärzt:innen in die Pflicht und diese wiederum schreiben häufig den Gebärenden selbst die Verantwortung zu: Sie hätten zum Beispiel zu hohe Erwartungen in Bezug auf die Geburt ihres Kindes.
Wegen der Vielschichtigkeit, aber vor allem auch aufgrund der massiven Auswirkungen, die eine schlechte geburtshilfliche Versorgung auf Familien und die Gesellschaft insgesamt hat, ist es zwingend notwendig, dass alle Akteur:innen an einem Strang ziehen. Dafür steht auch das Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ (NGZG). Deshalb fordern verschiedene Organisationen, wie zum Beispiel Mother Hood e. V. und der Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF), aber auch der Kooperationsverbund gesundheitsziele.de, eine konzertierte Aktion seitens der Bundesregierung zur Umsetzung des NGZG.
Die Forderung blieb nicht ungehört: Im Sommer 2024 hat die Bundesregierung einen bereits in ihrem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021 festgeschriebenen Aktionsplan veröffentlicht, der online einsehbar ist: „Gesundheit rund um die Geburt“.
Dem im NGZG formulierten Gesundheitsziel einer frauzentrierten Versorgung wird der Aktionsplan allerdings nicht gerecht. Zu viele Bereiche, Empfehlungen und dringend notwendige Reformschritte bleiben unberücksichtigt. Den zentralen Begriff des NGZG von einer frauzentrierten Versorgung nimmt der Aktionsplan noch nicht einmal auf. Schlüsselbegriffe wie Selbstbestimmung und Empowerment der Gebärenden kommen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren fehlen zentrale Themen wie Traumatisierung und Gewalterfahrungen im Kontext von Schwangerschaft und Geburt sowie eine daraus abgeleitete Notwendigkeit, mehr Unterstützungsangebote zu schaffen. Und dieser Mangel besteht, obwohl sich Deutschland entsprechend der Istanbul-Konvention des Europarates dazu verpflichtet hat, jeglichen Formen von Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken!
Zudem entzieht sich die Bundesregierung der Verantwortung für dringend notwendige Veränderungsprozesse, indem sie darauf hinweist, lediglich Maßnahmen festschreiben zu wollen, die in die Kompetenz des Bundes fallen und daher auf Bundesebene umgesetzt werden können.
Die Bundesregierung verpasst damit die Chance, mit einem Aktionsplan auf allen Ebenen der gesundheitlichen Versorgung Strukturen zu schaffen und zu unterstützen, die zu einer besseren Versorgung führen würden. Immerhin: Der Aktionsplan fasst die vielfältigen Probleme gut zusammen und verdeutlicht den Handlungsbedarf: „Die aktuelle Ausgangslage ist auch gekennzeichnet von einer im internationalen Vergleich relativ hohen Rate an Geburten mit medizinischen Interventionen, inklusive Kaiserschnitten, sowie von Beschwerden von Familien und Verbänden über unzureichende geburtshilfliche Kapazitäten und über die Versorgung und Betreuung vor, unter und nach der Geburt. Zudem bestehen soziale Ungleichheiten im Zugang und der Inanspruchnahme einer bedarfsgerechten Grundversorgung und von Unterstützungsangeboten in der Lebensphase rund um die Geburt.”
Um die von zahlreichen Organisationen und Akteur:innen einschließlich der Betroffenen selbst vorgebrachten, teils massiven Probleme zu lösen, bedarf es seitens der Politik ein Umdenken. Die Bundesregierung muss sich deutlicher als bisher für Veränderungen und die Umsetzung der Maßnahmen des NGZG einsetzen. Für diesen komplexen Veränderungsprozess braucht es beispielsweise eine Koordinierungsstelle, die einen umfassenden interdisziplinären und sektorenübergreifenden Nationalen Aktionsplan auf Grundlage des NGZG entwickelt und interministeriell arbeitet.
Zu den wichtigsten Hausaufgaben, die die Politik endlich erledigen muss, gehört eine Qualitätssicherung, welche die tatsächliche Versorgungsqualität überprüft. Hierbei muss die Nutzer:innenperspektive deutlich stärker berücksichtigt und die Eins-zu-eins-Geburtsbegleitung durch Hebammen als Qualitätskriterium eingeführt werden. Zudem ist es zwingend notwendig, dass die Geburtshilfe bedarfsgerecht und unabhängig von den Geburtenzahlen einer Klinik („Fallzahlen”) vergütet wird. Außerdem muss die Bundesregierung und müssen die Bundesländer endlich gemäß Istanbul-Konvention Gewalt und Respektlosigkeit in der Geburtshilfe als eine Form von Gewalt gegen Frauen anerkennen und mit umfassenden Maßnahmen gegensteuern, zum Beispiel mit Melde- und Anlaufstellen für Betroffene.
Das Ziel einer guten Versorgung rund um die Geburt für alle muss als eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft verstanden werden. Gute Bedingungen für Schwangerschaft und Geburt stärken die Gebärenden, sie stärken Frauen und Familien. Gestärkte Frauen und Familien sind der Grundstein für eine starke Demokratie und deutlich resilienter gegenüber plötzlich auftretenden Krisenereignissen und anti-demokratischen Einflüssen.