Nach wie vor fällt es vor allem Frauenärztinnen und Frauenärzten sowie der Politik schwer, das Vorkommen von Gewalt in der Geburtshilfe und Traumatisierung aufgrund von Geburtserfahrungen anzuerkennen. Dabei belegen Studien: Jährlich sind hunderttausende Mütter und Kinder betroffen.
Bonn, 15. November 2023. Mütter machen seit vielen Jahren auf die während der Geburt ihrer Kinder erlebte Gewalt aufmerksam. Sie legen am 25.11. zum Aktionstag “Roses Revolution”1) Rosen vor Kreißsaaltüren nieder, schreiben Briefe an Kliniken, wenden sich an Elternorganisationen wie Mother Hood e.V., geben Interviews, berichten in den Sozialen Medien. Das Thema Gewalt in der Geburtshilfe bekommt regelmäßig mediale Aufmerksamkeit, nicht nur zum 25.11..
Seit einigen Jahren widmen sich auch Wissenschaftler:innen dem, was Schwangere und Gebärende auf Geburtsstationen erleben. Ihre Studienergebnisse belegen: Gewalt und Traumatisierung sind weit verbreitet.
Die Häufigkeit von Traumatisierung liegt je nach Studie zwischen 10 und 30 Prozent aller Geburten. Das Vorkommen von Gewalterfahrungen wird mit bis zu 50 Prozent angegeben. Mit Blick auf die ungefähr 800.000 Geburten im Jahr, einschließlich Fehl- und Totgeburten, sind das rund ein viertel bis eine halbe Million betroffene Mütter und Kinder jährlich.
Als eine Ursache für eine belastende oder traumatische Geburt wurden negative Erfahrungen identifiziert. Eine wissenschaftliche Arbeit aus Deutschland2) kommt zu dem Ergebnis, dass die Hälfte der befragten Frauen mindestens einen negativen Vorfall während der Geburt ihres Kindes erlebt hat. Fast ein Drittel berichtet von körperlichen Eingriffen wie beispielsweise dem Kristeller-Handgriff, bei dem Druck auf den Bauch der Schwangeren ausgeübt wird, damit das Kind geboren wird. 30 Prozent erfuhren Vernachlässigung wie mangelnde Kommunikation zwischen Schwangeren und Geburtshelfenden oder das Ignorieren von starken Schmerzen.
“Aus unserer Sicht zeigt die Studienlage nichts Gutes über den Zustand der geburtshilflichen Versorgung”, sagt Katharina Desery von der Elternorganisation Mother Hood e.V. “Statt die Probleme weiter zu ignorieren oder kleinzureden, müssen die Ursachen endlich angegangen werden.”
Weitere Studien und Befragungen ermitteln eine mangelnde Aufklärung über medizinische Eingriffe oder die Behandlung von Mutter und Kind ohne informierte Einwilligung als Ursache für eine negative Geburtserfahrung.3)
Der natürliche Wehenschmerz oder falsche Erwartungen der Gebärenden hingegen gehören nicht zu den Gründen, warum Frauen eine Geburt als gewaltsam oder belastend angeben.
Gewalt und Trauma als Risiko für schwere psychische Erkrankungen
Eine als traumatisch erlebte Geburt erhöht das Risiko zur Entwicklung schwerer psychischer Erkrankungen. Dazu zählen die postpartale Depression oder die posttraumatische Belastungsstörung. Postpartale Depressionen, umgangssprachlich häufig als “Wochenbettdepression” bezeichnet, sind mit 10 bis 15 Prozent häufig. Sie muss von der deutlich leichteren depressiven Verstimmung unterschieden werden, die bei 50 bis 80 Prozent aller Mütter kurz nach der Geburt auftritt und in der Regel schnell wieder abklingt. Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) betreffen immerhin noch 2 bis 5 Prozent der Mütter. Von Angsterkrankungen und Depressionen infolge einer Geburtserfahrung sind nach ersten Erkenntnissen ebenfalls rund 5 Prozent der Väter betroffen, auch wenn in diesem Bereich bisher noch wenig Forschung existiert.
Die Studienergebnisse belegen: Negative Geburtserfahrungen können sich negativ auf die körperliche und seelische Gesundheit von Müttern und ihren Familien auswirken. Flashbacks, Alpträume, Schlafstörungen, Angst und Panikattacken sind schwerwiegende gesundheitliche Folgen für die Mutter. Es kann zu Stillproblemen und einer Beeinträchtigung der Mutter-Kind-Beziehung kommen, was sich nachteilig auf die gesunde Entwicklung des Kindes auswirken kann.
In Anbetracht der enormen Belastung für Frauen, Kinder, Väter und Familien sowie das Gesundheitssystem insgesamt, sind Verbesserungen in der geburtshilflichen Versorgung für die Gesellschaft von großem Nutzen.4)
Gesundheitsfachberufe wie Gynäkologinnen und Gynäkologen, aber auch Hebammen, müssen diesen Zusammenhang anerkennen. Sie müssen ihr eigenes geburtshilfliches Handeln kritisch hinterfragen und gegebenenfalls neue Wege in der Begleitung von Schwangeren und Gebärenden gehen. Dazu zählt die konsequente Umsetzung der Empfehlungen von medizinischen Leitlinien, wie die zur “Vaginalen Geburt am Termin” oder der “Sectio Caesarea” (Kaiserschnittgeburt). Auch die Einhaltung des Patientenrechtegesetzes (§ 630 BGB), nach dem vor medizinischen Eingriffen eine umfassende Aufklärung und Einwilligung in die Behandlungspraxis integriert werden muss, ist ein wichtiger Schritt hin zu einer mehr Gesundheit bringenden Versorgung.
Neben den Gesundheitsfachberufen muss auch die Politik ein deutlich größeres Interesse als bisher haben, die Rahmenbedingungen in der geburtshilflichen Versorgung zu verbessern. Dazu zählt die konsequente Umsetzung des vom Bundesgesundheitsministerium unterstützten 9. Gesundheitsziel “Gesundheit rund um die Geburt”, wie bereits im aktuellen Koalitionsvertrag festgesetzt. Hierfür sind allerdings deutlich mehr finanzielle Mittel aus dem Bundeshaushalt nötig, um einen Veränderungsprozess auf Bundes- und Länderebene, in den Kommunen sowie bei allen beteiligten Berufsgruppen rund um Schwangerschaft, Geburt und früher Elternschaft zu begleiten.
Als weitere Maßnahme muss die Bundesregierung Gewalt in der Geburtshilfe als eine Gewaltform gegen Frauen endlich anerkennen.
Quellenangaben und Hintergrund
1) Website der Roses Revolution Deutschland, www.rosesrevolutiondeutschland.de.
2) Beck-Hiestermann, L., Gries, S., Mehl, S., Stenzel, N., Erices, R., Gumz, A. (2023). Adverse Childbirth Experiences – Results of an Online Survey of Woman During Their First Year Postpartum. www.researchsquare.com/article/rs-3408649/v1.
3) Leinweber, J., Jung, T., Hartmann, K. and Limmer, C. (2021) Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe – Auswirkungen auf die mütterliche perinatale psychische Gesundheit. Public Health Forum, Vol. 29 (Issue 2), pp. 97-100. https://doi.org/10.1515/pubhef-2021-0040
4) CA18211 – Perinatal Mental Health and Birth-Related Trauma: Maximising best practice and optimal outcomes (DEVoTION), https://www.cost.eu/actions/CA18211/.
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Die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi) veröffentlicht 2020 ein Positionspapier zu Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe, Link.
Im Jahr 2019 verurteilt die Parlamentarische Versammlung des Europarates geburtshilfliche Gewalt und fordert von den Mitgliedstaaten des Europarates, Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Parliamentary Assembly, Resolution 2306 (2019) Obstetrical and gynaecological violence, 2019, https://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=28236.
Im Jahr 2018 ratifiziert Deutschland die Istanbul-Konvention. Das “Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ (Istanbul-Konvention) findet “Anwendung auf alle Formen von Gewalt gegen Frauen“ (Council of Europe, 2011, S.5). Damit verpflichtet sich Deutschland, insb. Frauen betreffende Gewalt in der Geburtshilfe zu bekämpfen. Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, https://rm.coe.int/1680462535.
Der Deutsche Hebammenverband eV. positioniert sich im Jahr 2018 erstmals zu Gewalt in der Geburtshilfe (aktualisiert 2020), Link.Die Weltgesundheitsorganisation WHO bezieht 2014 Stellung zu Gewalt in der Geburtshilfe. Erklärung “Vermeidung und Beseitigung von Geringschätzung und Misshandlung bei Geburten in geburtshilflichen Einrichtungen”, 2014, https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/134588/WHO_RHR_14.23_ger.pdf.
Pressemitteilung: