Routineinterventionen: Sinn und Unsinn der fünf häufigsten medizinischen Eingriffe während der Geburt

Die fünf häufigsten Interventionen in der Geburtshilfe.

Hinweis: Der folgende Text wurde im Jahr 2015 von der Mother Hood Wissenschaftsgruppe erstellt. Er ist als Beitrag in unserer Infodokumentenreihe „Was sagt die Wissenschaft?“ erschienen und ist nun Teil unserer Stichwortsuche rund um die Geburt.

Die folgenden fünf Punkte gehören zu den sogenannten „Routineinterventionen“ in der Geburtshilfe – derart Routine, dass sie häufig nicht mal im Geburtsbericht vermerkt werden. Zu allen gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass sie nicht hilfreich, im schlimmsten Fall sogar schädlich für Mutter und Kind sein können. Zuletzt wurde der Forschungsstand zu diesen Interventionen in einer ausgezeichneten und sehr gewissenhaft recherchierten Doktorarbeit zusammengefasst (Rachel Reed: Midwifery practice during birth: Rites of passage and rites of protection. Dissertationsschrift University of the Sunshine Coast, Australien 2013.)

1. CTG-Überwachung und Dauer-CTG

  • Dauer-CTG führt NICHT zu fitteren Kindern, stört häufig die Mutter und führt nachgewiesenermaßen zu mehr Kaiserschnitten.
  • 75% der Babys haben auffällige Herzfrequenzen in der Austreibungsphase, obwohl es ihnen nach der Geburt sehr gut geht. Auffällige Herztöne scheinen in dieser Phase für das Kind kein Problem zu sein – es sei denn, sie waren schon in der Eröffnungsphase auffällig! Schlechte Herztöne in der Austreibungsphase allein führen NICHT zu schlapperen oder beeinträchtigten Kindern.

(Anmerkung: dass in Krankenhäusern eigentlich immer ein sogenanntes „Aufnahme-CTG“ (20-30 Min. CTG schreiben, nachdem die Frau im Kreißsaal eingetroffen ist) gemacht wird und danach in unterschiedlichen Zeitabständen wieder, hat weniger medizinische, sondern viel mehr haftungstechnische Gründe: obwohl nachgewiesen ist, dass CTGs nicht immer zuverlässig aufschreiben, häufig Fehler in der Interpretation der aufgezeichneten Daten passieren und viele Frauen die Maßnahme als störend empfinden, handelt es sich bei dem CTG-Ausdruck nach wie vor um einen juristisch zulässigen Beleg für die Akten: „Seht her, hier war alles einwandfrei!“ oder: „Seht her, die Frau hatte noch gar keine Wehen!“)

Update 02/ 2021: Die S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ empfiehlt bei Niedrig-Risiko-Schwangeren EXPLIZIT keine CTG-Aufzeichnung und stattdessen die sog. Auskultation der Herztöne (vgl. Empfehlung 5.2.1, S. 43 der Langfassung).

2. Angeleitetes Pressen

  • Vollständige Öffnung des Muttermundes löst noch nicht den Pressdrang aus (das macht eher der Stand des Kopfes).
  • Das sogenannte „Valsava Pressen“ (Kopf auf die Brust, tief Luft holen und für die Dauer der Wehe pressen) verkürzt die Austreibungsphase nicht und unerwünschte Nebenwirkungen, z.B. schlechtere Versorgung mit Sauerstoff, die zu ineffektiven Wehen und schlechten Herztönen beim Kind führen können, was wiederum im schlimmsten Fall zu operativen Geburten oder Kaiserschnitten führen kann. Außerdem erhöht sich die Gefahr einer Dammverletzung.
  • Wenn ungestört und auf sich selbst vertrauend, nehmen Frauen in der Regel den besten Zeitpunkt wahr und die effektivste und sicherste Presshaltung für sich und ihr Baby ein. Dazu gehören auch Atemmuster, die das Baby optimal versorgen.

Update 02/ 2021: Die S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ empfiehlt EXPLIZIT keine Anleitung zum Pressen. Die Gebärende soll „sich von ihrem eigenen Pressdrang leiten lassen“ (vgl. Empfehlung 8.6, S. 138 der Langfassung).

3. Geburtspositionen

  • Instinktiv nehmen Frauen eher aufrechte Positionen ein; trotzdem ist die in Kliniken vorherrschende Gebärhaltung die Rückenlage, weil die Geburtshelfer dabei den besten Blick auf die Vagina und das Kind haben. Außerdem sind die meisten Kreißsaalbetten höhenverstellbar und die Geburtshelfer können rückenschonend arbeiten.
  • Immer mehr Frauen nehmen von sich aus eine Rückenlage zur Geburt ihres Kindes ein – scheinbar, weil sie durch Film und Fernsehen und kulturell auf diese Position geprägt sind.

(Anmerkung: Geburten in Rückenlage haben viele Nachteile: durch den Druck aufs Becken und den Steiß verkleinert sich der Beckenausgang; das Kind muss zum Abschluss eine Aufwärtsbewegung gegen die Schwerkraft machen; es gibt mehr Dammverletzungen und ggf. kann es durch die Druckverhältnisse in den Blutgefäßen zu einer Unterversorgung des Kindes kommen.)

Update 02/ 2021: Die S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ hält auch hierfür einige deutlichen Empfehlungen bereit. Die Rückenlage wird darin als die unkomfortabelste Gebärposition ausgewiesen. Die Gebärende soll ermutigt werden, die für sie angenehmste Position für die Geburt zu wählen (vgl. Empfehlung 7.35, S. 116 der Langfassung).

4. Dammschutz durch Geburtshelfer

  • Unterschieden werden mündliche Schutzmaßnahmen (z.B. Anweisung nicht mitzupressen, sondern zu verhecheln) und physische Maßnahmen (bspw. Stützung des Kopfes durch die Hände der Hebamme, warme Kompressen).
  • Gegebene Faktoren für Dammverletzungen: schwere Kinder, größere Gewichtszunahme der Mutter während der Schwangerschaft, kaukasische oder asiatische Herkunft, höherer sozio-ökonomischer Status, ältere Gebärende, erste Vaginalgeburt der Mutter.
  • Beeinflussbare Faktoren für Dammverletzungen: angeleitetes Pressen, Lokalanästhesien (PDA, Pudendusblock, etc.), Rückenlage oder tiefe Hocke.
  • Hilfreich um Dammverletzungen vorzubeugen sind bestimmte Gebärhaltungen (Vier-Fuß-Stand, Seitenlage, kniende Haltung der Mutter), Dammmassage während der Schwangerschaft. Warme Kompressen auf dem Damm scheinen zumindest schweren Verletzungen vorzubeugen.

5. Nabelschnur um den Hals

Geburtshelfer:innen tasten häufig routinemäßig nach einer um den Hals liegenden Nabelschnur.

  • Liegt sie um den Hals, aber locker, so wird sie oft vor der Geburt des Babys abgewickelt. Frage ist warum – lockere Nabelschnüre haben keinen Einfluss auf den Geburtsfortgang. Durch ein Anfassen der Nabelschnur kann es aber zur zeitweiligen Beeinträchtigung des Blutflusses in der Nabelschnur kommen – und dies kann wiederum eine schlechtere Versorgung des Kindes bedeuten.
  • Liegt sie um den Hals und ist eng, so wird in einigen Geburtsstationen sofort abgenabelt, weil Sorge besteht, dass das Kind bei enganliegender Nabelschnur nicht geboren werden kann. Das stimmt nicht – auch bei sehr kurzer Nabelschnur kann das Kind eine Saltobewegung Richtung Bauch der Mutter machen zu lassen. Oft ist nicht mal das nötig. Das frühzeitige Abnabeln hingegen unterbricht die
  • Versorgung des Kindes, bevor in der Regel der Reflex zum Atmen ausgelöst wurde – dies kann zu einer bedenklichen Sauerstoffunterversorgung führen.

Abschließende Überlegungen

Wenn die Forschung somit bereits seit einiger Zeit „weiß“, dass alle diese Eingriffe nicht gut, im schlimmsten Fall sogar schädlich sind – warum finden wir sie dann immer noch weltweit verbreitet in der Geburtshilfe?
Weil in Krankenhäusern und auch aus haftungstechnischen Gründen nicht nur die medizinische Evidenz, sondern noch andere Dinge eine Rolle spielen. Beispielsweise sind Geburtshelfer in Krankenhäusern oft an bestimmte (ebenfalls nicht wissenschaftlich begründbare) Zeitfenster gebunden, innerhalb derer eine Geburt abgeschlossen sein muss. Vor Gericht müssen Geburtshelfer:innen nachweisen, dass sie etwas getan haben, weil „etwas tun“ in unserer Kultur als gut und hilfreich angesehen wird, das „nichts tun“ aber als unterlassene Hilfeleistung und schädlich.
Zusätzlich ist es vielfach so, dass die Frauen die Eingriffe erwarten, weil sie sonst den Eindruck haben, ihnen werde bei der schweren Geburtsarbeit nicht geholfen. Das geht sogar soweit, dass Frauen den Dammschnitt (der rein wissenschaftlich gesehen in den meisten Fällen ebenfalls mehr Schaden als Nutzen anrichtet) fordern, weil sie meinen, sie könnten anders ihr Kind nicht zur Welt bringen.
Geburtshilfe hat somit sehr viel mehr mit unserer Kultur zu tun als mit dem,
was tatsächlich gut ist für Mutter und Kind.

Zusammengefasst von Dr. phil. Katharina Hartmann / Stand: 10/2015; Update 02/ 2021
Kontakt: info@mother-hood.de

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